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aus: Wochenendbeilage der jungen welt vom 05.07.2003

»Ein gewaltiger Prozeß der Politisierung«

Interview: Timo Berger

Gespräch mit Verónica Gago* und Diego Sztulwark* über den Aufstand im Dezember 2001, die autonomen Piqueteros und den neuen argentinischen Präsidenten Néstor Kirchner

* Verónica Gago und Diego Sztulwark gehören zum »colecti-vo situaciones«, einer Gruppe von Sozialwissenschaftler, die die argentinischen Basis-Bewegungen »begleiten«. Mit Hilfe ihrer Methode der »investigación militante« (militante Untersuchung) wollen sie keine »Wahrheit« über die Ereignisse herausfinden, sondern sich öffnende Handlungsspielräume ausloten. Sie entwickeln ihre Thesen in Auseinandersetzung mit den Protagonisten. Von den Zapatisten haben sie vor allem gelernt, daß die herrschenden Formen von Politik, nicht nur ihre Inhalte, ein zentrales Problem für emanzipatives Wirken darstellt.

F: Vor anderthalb Jahren skandierte die argentinische Bevölkerung »Alle sollen gehen«. Bei den Präsidentschaftswahlen Ende April stimmten die Wähler jedoch zu über 90 Prozent für etablierte Politiker. Warum?

Diego Sztulwark: Die Losung »Alle sollen gehen« wurde in einem bestimmten historischen Moment entwickelt, in dem die Krise der politischen Repräsentation in Argentinien mit einer der schlimmsten Krisen des neoliberalen Wirtschaftsmodells zusammenfiel. Die Leute wollten das alte politische System abschaffen. Am Anfang war diese Bewegung sehr massiv, aber wenig organisiert. Sie hatte verschiedene Dynamiken, die sich gleichzeitig entwickelten.

Es gab Gruppen, von denen die Losung »Alle sollen gehen« derart gedeutet wurde, daß eine politische Alternative aufzubauen sei, die sich gänzlich vom alten politischen System unterscheidet. Andere wollten verhindern, daß irgend jemand überhaupt wieder die Macht übernimmt. Deshalb wollten sie die Wahlen boykottieren. Und dann gab es Gruppen, die davon überzeugt waren, dieses »Alle sollen gehen« meine nicht im wörtlichen Sinne alle, sondern nur die alte politische Klasse, mit den Expräsidenten Menem, Duhalde und Alfonsín. Für sie gehört der neue Präsident Néstor Kirchner zu einer jüngeren Generation, durch die das politische System erneuert wird.

Für uns vom »colectivo situaciones« dagegen bedeute die Losung mehr. »Alle sollen gehen, die wir selbst bis dahin waren« – also ein vollständigen Bruch mit dem Neoliberalismus und dem System der politischen Repräsentation. Doch die Feststellung, daß sich das System festgefahren hat, dieses »Ya Basta«, beinhaltet keine konkrete politische Alternative. Bis heute wird in den Basis-Bewegungen über eine solche Alternative nachgedacht, ungeachtet dessen, daß in Argentinien inzwischen Wahlen stattgefunden haben. Die Bewegungen haben eine eigene Dynamik, die nicht mit den Wahlzyklen einhergeht.

F: Das »Alle sollen gehen« war also Artikulation und Vollzug eines Bruchs mit dem Bisherigen. Dennoch scheinen nach den massiven Protesten 2002, die ja eine Art Machtvakuum erzeugten, die staatlichen Institutionen heute wiederhergestellt. Bedeutet die Wahl Néstor Kirchners ein Ende des Ausstands in Argentinien?

Verónica Gago: Wir erleben im Augenblick eine ambivalente Situation. Einerseits versuchten die Machthabenden nach dem Aufstand im Dezember 2001 und der rasanten Abfolge von fünf Präsidenten, die institutionelle Ordnung wiederherzustellen. Andererseits kann man diese Reinstitutionalisierung nicht einfach als Gegenentwicklung zu den Ereignissen jenes 19. und 20. Dezembers werten. Zwischen dem Dezember 2001 und den Wahlen Ende April vollzog sich ein sehr komplexer Prozeß, in dem es den Machthabenden überhaupt erst gelang, Wahlen durchzuführen. Dabei entwickelte sich eine Art Zusammenleben der Akteure. Auf der einen Seite die Machthabenden, auf der anderen die Gruppen, die eine Gegenmacht repräsentieren. Diese mußten sich so organisieren, daß sie auch dann überleben, wenn an sie die Erwartung gestellt wird, sich in eine politische Alternative zu verwandeln. Diese doch sehr traditionelle Forderung steht im Widerspruch zu den Formen, in denen diese Gegenmacht im Dezember 2001 sichtbar wurde und seitdem existiert. Formen, die sich gerade durch den Bruch mit dem bisherigen Politikverständnis auszeichnen. Den autonomen Piqueteros geht es wie den Neozapatisten in Mexiko gar nicht zumindest nicht zum jetzigen Zeitpunkt um die Machtübernahme, sondern darum, ihre Organisation aufzubauen und zu festigen.

F: Aber ist dieser Anspruch auf eine neue politische Kraft seitens der Bevölkerung nicht auch verständlich? Immerhin hatte der Gewerkschaftsdachverband CTA dazu eingeladen, eine »nationale Basis-Bewegung« zu gründen. Warum sind Teile der Bewegung, wie die autonomen Piqueteros, dieser Einladung nicht gefolgt?

Sztulwark: Um das zu verstehen, muß man zuerst eine Karte der argentinischen Bewegungen zeichnen. Ende Dezember 2001 kam es zu einem Bruch, aber nicht zu einer Revolution. Es kam weder zur Auflösung der bürgerlichen Parteien, noch ging das Proletariat als neue Macht hervor. Alles, was nach dem 19./20. Dezember geschah, mußte erst – in der Situation des Zusammenbruchs – seine eigenen Möglichkeitsbedingungen herstellen. Die politischen Parteien mußten Wahlen ausrufen, auch wenn sie sich selbst über diesen Wahlen fast gespalten hätten. Nicht eine der etablierten Parteien schaffte es, mit nur einem einzigen Kandidaten zu den Wahlen anzutreten. Aber auch für die sozialen Bewegungen war es nicht einfach, sich zu organisieren. Dem Gewerkschaftsdachverband CTA gelang es nicht, eine »argentinische PT«, eine Arbeiterpartei nach dem Vorbild Brasiliens, zu gründen, um das Machtvakuum zu füllen. Zum einen, weil es sich bei diesem Machtvakuum um eine Illusion handelte – die Formen der kapitalistischen Reproduktion waren nie ernsthaft in Frage gestellt. Zum anderen, weil die verschiedenen Basisbewegungen sich anders organisieren und ihre Mitglieder anders denken als die CTA.

Die autonomen Organisationen waren deshalb in einer zwiespältigen Situation, als die CTA dazu aufrief, eine »PT« zu bilden. Zum einen war ihnen klar, daß eine solche Bewegung – würde sie Schlüsselpositionen der Macht besetzen – die Lage der Bevölkerung verbessern würde. Zum andern haben sich aber in Argentinien unterschiedliche Verständnisse von Basisorganisationen entwickelt. Die einen sind davon überzeugt, daß das zentrale Moment jeder Basisorganisation das Handeln des Staates ist. Die anderen sind der Ansicht, daß das Handeln des Staates ein wichtiger Moment ist, dem aber die Autonomie der Bewegung nicht untergeordnet werden sollte. Viele Bewegungen antworteten auf die Einladung der CTA: »Gründet ihr eine solche Bewegung, aber wir glauben nicht, daß eine solche Einladung frei von Machtinteressen ist.« Es wurde weitgehend davon ausgegangen, daß es sich dabei um einen Versuch handele, diese Bewegungen einer staatspolitischen Dynamik unterzuordnen, die den Bewegungen Kraft nehmen würde.

F: Die autonomen Piqueteros, mit denen Sie sich hauptsächlich in Ihrem Buch »Que se vayan todos« beschäftigen, repräsentieren aber nur zwei, drei Prozent der organisierten Arbeitslosen. Besteht nicht die Gefahr, den Blick für die Gesamtheit der Bewegungen zu verlieren?

Gago: Natürlich muß man sehen, daß es sich bei den Piqueteros nicht um eine einzige Bewegung handelt, sondern daß es im Grunde drei Strömungen gibt: eine im klassischen Sinne »revolutionär« – diese umfaßt von linken Parteien gegründete oder ihnen nahestehende Bewegungen. Eine, die »reformistisch« ist und die auf Verhandlungen mit der Regierung mit dem Ziel eingeht, den Einschluß der Arbeitslosen ins politisch-soziale System zu erreichen. In diesem Lager kann man die FTV, den Piquetero-Arm der CTA, ansiedeln. Und zuletzt einen minderheitlichen Sektor, autonom, in dem Sinne, daß er nicht in der Dichotomie von Reform oder Revolution denkt. Das ist der Sektor, mit dem wir zusammenarbeiten und der uns am meisten interessiert, weil sie den politischen Veränderungen auf den Grund gehen, die der Neozapatismus von Mexiko aus in Lateinamerika eingeführt hat. Wenn wir von Piquetero-Bewegung sprechen, dann stellen wir immer klar, daß wir mit diesem Sektor arbeiten, und daß wir nicht beanspruchen, unsere Ergebnisse auf andere Organisationen zu übertragen. Genauso wie wir betonen, daß es falsch ist, von den Piqueteros als eine soziale Bewegung zu sprechen. Eine solche Homogenität existiert nicht. Die autonomen Piqueteros der MTD (»Bewegung Arbeitsloser Arbeiter«) zielen auch gar nicht auf eine mehrheitsfähige Politik ab. Aus diesem Grund suchen sie keine Übersetzung ihrer Bewegung in eine politische Partei, die sie national repräsentieren könnte. Sie wollen auch nicht mit den anderen Bewegungen um Sozialpläne konkurrieren, sondern sie sind diejenigen, die sich danach fragen, was gesellschaftlicher Wandel bedeutet. Jenseits des Staates und des Marktes.

Sztulwark: Als wir uns dafür entschieden, mit der autonomen MTD zu arbeiten, taten wir dies, weil sie mehr als andere versuchten, ihre Erkenntnisse aus diesem Prozeß des Fragens und der Selbstreflektion, in die Praxis umzusetzen. Dennoch halten wir die Gesamtheit der Piqueteros-Bewegungen für den »Neuen Sozialen Protagonismus«. Die Piqueteros eint, daß sie eine autonomistische Komponente in ihren Aktionen haben, auch wenn nicht alle über eine autonomistische Ideologie und Diskurs verfügen. An der Basis dieser Bewegungen gibt es ein beachtliches Niveau der Selbstorganisation, mit dem sie auf sehr konkrete Probleme reagieren. Diese Selbstorganisation und die Vernetzung mit anderen Bewegungen, wie die der besetzten Fabriken, hat die politische Kultur Argentiniens verändert.

F: Bei allem Lob der Selbstorganisation nehmen die Piqueteros dem Staat nicht auch eine Menge Arbeit ab? Sie schaffen Arbeitsplätze, organisieren Suppenküchen, Gemeindezentren, medizinische Versorgung. Und das alles für minimal dotierte Sozialpläne. Sollten sich die Piqueteros nicht weigern, da einzuspringen, wo der Staat versagt hat?

Sztulwark: Ich glaube nicht, daß eine solche Kritik zutrifft. Aus zwei Gründen: zum einen aufgrund der Fragestellung. Ich glaube, daß die Piqueteros nichts anderes machen sollten, als das, was sie bereits tun. Ich glaube nicht, daß ihnen irgend jemand sagen könnte: »Ihr macht dies, aber ihr solltet jenes machen«. Wer anderer Ansicht ist, der sollte einfach einmal zu einer entsprechenden Versammlung gehen und es versuchen. Aber es gibt auch noch einen anderen wichtigeren Grund: Die Bewegung der Piqueteros zwingt den Staat durch ihre Aktionen jedes Mal mehr, sich um ihre Probleme zu kümmern, das, was sie machen, zu unterstützen. Wachsen die Bewegungen der Piqueteros, wächst die Forderung nach Sozialplänen, wächst die Zahl selbstverwalteter Unternehmen, die wiederum später staatliche Subventionen einfordern. Diese Entwicklung stärkt auch den Trend zu einer legalen Rechtsform. Die Piquetero-Bewegungen lehnen den Staat ab, wenn er versucht, ihnen zu sagen, was sie zu tun haben. Sie akzeptieren ihn als Verteiler gesellschaftlicher Ressourcen, als Garant der Legalität. Auch die MTD gehen eine Beziehung mit dem Staat ein, indem sie die Sozialpläne mitverwalten. Dennoch: Bevor die Piqueteros-Organisationen entstanden, hatte der Staat sich wirklich aus ihren Vierteln verabschiedet. Und in dem Moment, in dem die Piqueteros den Staat dazu zwingen, sich vor Ort zu zeigen, zwingen sie ihn, ihre Forderungen zu hören und ihnen mehr Mittel in Form von Sozialplänen und Lebensmittelpaketen zu Verfügung zu stellen.

Zwar kam es dabei zu einer Wiederherstellung des Staates, aber es gibt jetzt auch einen sehr starken sozialen Protagonismus. Wenn sich die Machthabenden dafür entscheiden, ihm nicht mit Repression zu begegnen, sondern in einen Dialog mit den Piqueteros zu treten, die eine oder andere ihrer Forderungen zu erfüllen, so begleitet der Staat einen Prozeß, der von der Basis kommt. Der Staat mag die Piqueteros für billige Angestellte halten, die die Reproduktion der Armut sichern. Die Piqueteros machen aber dabei immer mehr völlig unabhängige Erfahrungen und lernen, ihre Anliegen besser zu artikulieren. Unter dem Strich findet ein gewaltiger Prozeß der Politisierung statt.

F: Trotzdem ist dieser Dialog nur eine Strategie des Staates. In den Wochen vor den Wahlen setzte er auf Repression. In den Reihen der MTD gab es 2002 mehrere Tote. Versucht der Staat nicht doch, die autonomen Bewegungen niederzuschlagen, wo er kann?

Gago: Wir haben uns mit der staatlichen Repression nach dem »Massaker an der Puente Pueyrredón« am 25. Juni 2002 beschäftigt. Wir kamen zu dem Ergebnis, daß der Staat nicht als ein homogener Apparat Repression ausübt. Es gibt in jedem Viertel ein Zusammenspiel mafiöser Banden mit untereinander im Clinch liegenden Teilen der Polizeikräfte. Dazu kommt, wie im Fall der geräumten Textilfabrik Brukman, ein hohes Ausmaß politischer Auseinandersetzung innerhalb des staatlichen Justizwesens. So sind es oft ziemlich selbständig agierende Zellen innerhalb des Staatsapparats, welche die Repression ausüben.

F: Wie kann der neue Präsident Néstor Kirchner einen politischen Wandel erreichen, wenn sich innerhalb des Staatsapparats Gruppen bekriegen?

Sztulwark: Die Situation von Kirchner ist sehr komplex. Niemand kann diese Frage heute abschließend beantworten. Kirchner ist ein Präsident, wie man in Argentinien sagt, der »durchs Fenster ins Haus kam«. Das heißt: Er hat nie Macht von unten aus konstruiert. Er kam an die Regierung aufgrund der Auflösung des Peronismus. Duhalde brauchte einen Nachfolger, um eine erneute Präsidentschaft von Carlos Menem zu verhindern. Kirchner ist also in einer Situation, in der er einerseits Erwartungen der Gesellschaft repräsentiert, die einen sehr starken Wandel verlangt, eine Abkehr vom neoliberalen Modell, eine stärkere Orientierung Richtung des gemeinsamen Marktes, wie etwa der südamerikanischen Freihandelszone Mercosur. Und auf der anderen Seite hat Kirchner keine »Hausmacht«, die fähig wäre, dieses Chaos, das der Staat, seine Banden und die Mafias darstellt, zu disziplinieren. Das ist sein Dilemma. Vielleicht kann er das nicht lösen, vielleicht ist er selbst Teil jener Mafias. Wir wissen es noch nicht.

F: Wie beurteilen Sie die ersten Amtshandlungen Kirchners?

Gago: Man kann die Regierung Kirchners nicht losgelöst vom Widerstand der Bevölkerung gegen den kruden Neoliberalismus verstehen, der in den vergangenen zehn Jahren in Argentinien regierte, ein massiver Widerstand, der im Dezember-Aufstand zum Ausdruck kam. Auch wenn es keine direkte Übersetzung dieser Ereignisse in eine politische Partei gibt, so herrscht doch eine veränderte Grundstimmung in der Gesellschaft. Die Menschen sind überzeugt, daß in Argentinien viele Dinge nicht mehr möglich sind, die lange Jahre über möglich waren. Wenn also Kirchner sein Amt mit einem moderaten, neoliberalismuskritischen Diskurs antritt, so reagiert er auf diese Stimmung.

Sztulwark: Maßnahmen wie die Absetzung der Militärspitze kamen natürlich in aller Welt sehr gut an. Außerdem hatte sie niemand erwartet, weil Kirchner sie nicht im Wahlkampf angekündigt hatte. Diese Aktion und auch sein Vorgehen gegen die korrupten Richter des Obersten Gerichtshofes erscheint als ein Abbau der staatlichen Mafia, die bislang unter dem Schutz Menems stand. Es handelt sich um einen sehr gewagten Schachzug Kirchners, mit dem er sich von all den Mächten entfernt, die das alte System stützten. Im ersten Moment wirkt das positiv, weil es sich gegen die immer noch herrschende Straflosigkeit der Militärs und der Richter richtet. Aber was daraus folgt, weiß noch niemand.

Das Gespräch führte Timo Berger

* Im Berliner Verlag Assoziation A erschien im März diesen Jahres auf deutsch »Que se vayan todos. Krise und Widerstand in Argentinien« mit Beiträgen vom Colectivo Situaciones. Herausgegeben von Ulrich Brand. 14 Euro

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